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Anna Magdalena und die Cellosuiten

Anna Magdalena Bach - ein Fazit

Invention....der Einfall

Beethoven, Streichquartett op. 131

 

 

 

 

 

 

 

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Anna Magdalena und die Cellosuiten

Anna Magdalena Bach ist für die Cellisten von Bedeutung, weil ihre Abschrift der 6 Cellosuiten die aussagekräftigste Quelle ist, die wir haben. Ein Autograph ist nicht erhalten.

Wenn Cellisten an die Suiten von Bach denken, erscheint Anna Magdalenas Handschrift (ca 1730) vor unserem geistigen Auge.

Um ihre Abschrift, besonders ihre Unklarheiten - besonders in den Artikulationsbögen - rankt sich bis heute mancher Gelehrtenstreit. Ganze Bücher sind darüber geschrieben worden, warum der eine Bogen da und nicht da beginnt oder aufhört.

Die nicht immer eindeutig gezeichneten Bögen erzählen vom Leben im Hause Bach. Nur mal für die konkrete Vorstellung: Die Familie Bach 1730:

Die 29jährige Kopistin,

die älteste Stieftochter Catharina Dorothea (22 Jahre) als Unterstützung

Friedemann war 20 und studierte an der Leipziger Uni Jura

zwei pubertierende Jungs, nämlich Johann Gottfried Bernhard Bach (15 Jahre), der ein erfolgreicher Musiker war, aber möglicherweise schon seinen später besorgniserregenden Lebenswandel begann,

und der 16j. Carl Philipp Emmanuel, der im Begriff war, von der Thomasschule an die Uni zwecks Jurastudium zu wechseln,

ihr erstgeborener (1724) Sohn Gottfried Heinrich Bach, mit Lernschwäche, der später als musikalisch begabt, aber "blöde" beschrieben wurde,

Liesgen war 4,

Regina war 2 (und starb 3 Jahre später)

die kleine (geb.1729) Christiana Benedikta, die in dem Jahr 1730, das wir als Jahr

der Kopie annehmen wollen, starb,

2 ihrer Kinder waren bereits gestorben,

und schwanger (Christiana Dorothea 1731) war sie auch.

Desweiteren lesen wir von viel Besuch (vielleicht Cellisten aus Bologna?) und der unmittelbaren Nachbarschaft zur Thomasschule, von wo Leben, Lärm und Infektionskrankheiten in die Bachsche Wohnung drangen.

Anna Magdalena war Sängerin und spielte Tasteninstrumente, Streicherbögen waren nicht ihr Kerngeschäft. In ihrer Zeit war die musikalische Sprache den Interpreten so vertraut, dass sie selbst wussten, welche Möglichkeiten des Artikulierens gegeben sind, das wusste die Kopistin und konnte darauf vertrauen, dass die Praktiker auch bei nicht ganz akribisch gezogenen Bögen wussten,

wie's gemeint war. Zudem schrieb sie nicht eine praktische Ausgabe für Cellisten (die liefen vielleicht gerade mit dem Autograph davon), sondern für das Archiv eines Sammlers, der ebenfalls selbst nicht Cello spielte.

Außerdem war es bestimmt Nacht, sie hatte wenig Zeit und schlechtes Licht, und ihre Gedanken waren nicht bei den Musikwissenschaftlern in 250 Jahren, sondern bei der Frage, ob sie wohl heute noch irgendwann zwei Stunden Schlaf kriegen könnte...vielleicht war's aber auch ganz anders.

Der Versuch, uns die Person A.M. vorzustellen, eine vorzügliche Musikerin, die in einem großen, lebhaften Haushalt nachts bei Kerzenschein mit der Gänsefeder schreibt, bringt uns auch die Musik etwas näher: Ganz mittendrin, wo Geburt und Tod an der Tagesordnung sind, wird diese Musik erhalten, diese vielen Töne für dieses eine große Instrument, was bis heute doch fast exotisch scheint und damals noch ganz neu war.

Seitdem gingen die Suiten ihren Weg und spätestens seit ihrer Wiederentdeckung durch Pablo Casals hat jeder Cellospieler seine ganz persönliche Geschichte mit ihnen. Sie handelt von höchst komplexer Musik mit vielen Querverbindungen, Erinnerungen, Veränderungen, von Weglassen und Vertrauen auf das Gedächtnis und die Fantasie der Zuhörer, von stilistischen Fragen, Fragen zu Instrument und Bogen, vom Spannungsfeld Sprechen und Singen, Texttreue und Improvisation, von Lehrer-Schüler-Beziehungen, Tradition und Hinterfragen. Und auch dadurch verändert sich manches, was seinerzeit mit der Gänsefeder festgehalten wurde, und auch das muss vielleicht so sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anna Magdalena Bach - ein Fazit

Anna Magdalena Bach:

Die Starsängerin. Die Frau im Köthener Doppelverdiener-Dreamteam. Die geheime Musikerin von Leipzig. Die ewig Schwangere. Die Mutter der toten Kinder. Die verarmte Witwe. Die mit dem Notenbüchlein....

Für uns ist sie: Die Frau mit der Gänsefeder.

Wir wissen eigentlich nichts über sie. Doch zeigt sich uns inzwischen um sie herum ein lebendiges und oft widersprüchliches Bild, worin wir sie als weißen Fleck mit immer klareren Konturen ahnen, als hätte lange Zeit niemand nach ihr gefragt.

Nach der Fokussierung auf das eine (männliche) Genie im 19.Jahrhundert schrieb man in jüngster Zeit sogar Bachs Gattin auch einige von Bachs Kompositionen zu.

Analog zu "Bach und Schüler" auch "Bach und Gattin"?

Was ist unser Bild von Anna Magdalena Bach, unsere Geschichte nach all diesem Halb- und Ganz- und Garnichtwissen?

Erste Erkenntnis: Geschichtsschreibung beschreibt zu großen Teilen sich selbst und ihr eigenes zeittypisches Denken. Schreibe ich über über ein vergangenes Leben, beschreibe ich mich, denn ich lege unwillentlich meinen Blick auf die Dinge offen.

Weiß ich um diese Zusammenhänge, ist es genauso: Reagierend auf einen Rest von Geniekult treibt auch die Genderforschung manch seltsame Blüte.

Sind wir doch alle ein wenig selbstverliebt in das, was wir schon mal gedacht haben. Geben wir doch denen gerne recht, die unsere eigenen Gedanken, Vermutungen, Verschwörungstheorien bestätigen.

Was bleibt? Was sehen wir in dem weißen Fleck, in dem Anna Magdalena - für jeden von uns sich anders materialisierend – erscheint?

Sie startete als Superstar, 18jährig von J.S.B. selbst engagiert am Köthener Hof, mit einem astronomischen Salär. Sie konnte nicht "nur" singen, sie konnte vermutlich virtuos Tasteninstrumente spielen, Generalbass.

Sie konnte Musik nicht nur aus dem Kopf oder nach Diktat schreiben, sondern sie sich auch über Stunden oder Tage merken. Übrigens konnten das damals sicher alle Musiker auf einem Niveau, von dem wir nur träumen konnten, weil sie sich Musik merken mussten.

Vielleicht gab es gar kein Autograph der Cellosuiten. Vielleicht spielte der Chef das nach dem Frühstück auf der Bratsche und sagte, hey, in Bologna spielen sie jetzt alle Cello, das geht auch auf dem Cello. Schreib's doch mal im Bassschlüssel auf. Und sie war gerade mit Geburt oder Krankheit oder Tod eines Kindes beschäftigt und sagte, ja klar, sobald ich dazu komme.

Und in der Nacht, oder erst in der übernächsten Nacht, da nahm sie die Kerze und die Gänsefeder und schrieb nach ihrer Erinnerung, damit es nicht verloren ging.

Sie liebte gelbe Nelken und Singvögel. Sie war Patin vieler Kinder enger Freunde, sie schenkte einer Leipziger Freundin eine Bibel.

Sie hatte Musik im Kopf, sie schrieb nachweislich zusammen mit ihrem Mann Musik auf.

Die im Raum stehende Frage "Wer hat's erfunden?" ist vielleicht eine 19.Jahrhundert-Frage.

Die Musik, deren Spielregeln für alle Familienmitglieder selbstverständlich waren, stand ebenso im Raum wie die Infektionskrankheiten aus der Thomasschule. Musik war im Bachschen Wohnzimmer und in der Bachschen Küche - Familiensprache.

Ein paar Akkorde hat der Vater, nachdem sie ihm eingefallen waren, vielleicht nur skizziert, und man überlegte zwischen Wäsche und Abendessen, ob sich irgendjemand aus der Familie die Mühe machen sollte, sie auszuschreiben – oder ob das die Interpreten alleine könnten.

Wenn uns die Frau mit der Gänsefeder nur eine Ahnung von diesem Umgang mit Musik geben könnte,

wenn wir uns entfernt vorstellen, wie es wäre, diese Sprache zu sprechen,

mitten in unserer Bibliothek aus schweinsledernen Erbstücken und urheberrechtsfreier, schnell ausgedruckter free sheet music uns vorstellen, wie es ist, Musik mehr zu machen und zu denken, statt zu haben,

wenn wir Bachs monumentales Werk aus dieser Denke heraus hören und spielen könnten,

dann hätte all die Forschung vor uns was Gutes bewirkt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Invention....der Einfall

Wir stellen uns vor, wie die Bachs mit Einfällen umgehen. Niemand hatte so viele Einfälle wie Bach (Beethoven: Nicht Bach, Meer sollte er heißen...). Der Einfall wurde vielleicht ausprobiert, musiziert, improvisiert, er stand im Raum, ging im nachts als Ohrwurm durch aller Ohren.

Am nächsten Morgen führte vielleicht einer oder eine aus der Familie ihn weiter aus an irgendeinem Musikinstrument.

Diese besonderen Einfälle, Inventionen genannt, fielen Bach ja bekanntermassen mit pädagogischer Absicht ein: Seine Schüler, wozu auch seine Familienmitglieder zählten, sollten anbey auch zugleich gute inventiones nicht alleine (zu) bekommen, sondern auch selbige wohl durch(zu)führen, am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen (zu )erlangen, und darneben einen starcken Vorschmack von der Composition zu überkommen.

(Köthen 1723)

Einfälle sollen nach den Worten des Meisters ja andere Menschen motivieren, sich selbst was einfallen zu lassen. Und jemand muss sie "durchführen" nach den Regeln der Kunst (Elaboratio).

Das ist ganz offensichtlich nicht dem Genie in einsamen Musenstunden vorbehalten, sondern wird sofort geteilt: Der Einfall soll sich in anderen Köpfen vermehren, und alle, die musizieren, sollen sich nicht nur selbst was einfallen lassen, sondern auch was damit anfangen können.